„Vor Gott sind alle Menschen gleich!“  

Ruth Michel überlebte den Horror der Nazi-Zeit und klärt auch mit 95 noch auf, was damals geschah 

Der Zweite Weltkrieg ist an diesem 8. Mai 2024 in Europa seit 79 Jahren vorbei. Trotzdem haben sich um die 70 Schüler der Stuttgarter Hedwig-Dohm-Schule, zwischen 16 und 17 Jahre alt, in der Aula versammelt, um sich die Erinnerungen einer 95-jährigen, sehr energischen Dame an diese Zeit anzuhören. 

„Als ich zwölf Jahre alt war, musste ich die Führung der Familie übernehmen“, erzählt Ruth Michel, die damals noch Rosenstock hieß, aus ihrem Leben. Sie wurde als Tochter einer evangelischen Mutter und eines jüdischen Vaters in Königsberg geboren. Ihr Vater hatte immer Hochachtung vor den Deutschen. 

Bis Hitler 1933 an die Macht kam. Ruths Vater wurde auf der Straße zusammengeschlagen, weil er Jude war. Die Familie floh aus Königsberg, um bei seiner Mutter in Polen unterzukommen. Aber dahin kamen die Deutschen im Krieg auch. Am 12. Dezember 1941 ermordeten sie alle jüdischen Männer, die sie in der kleinen Stadt Mykulytschyn finden konnten. Über 200 Menschen, darunter auch Aaron Rosenstock, Ruths Vater.  

Sie gibt allen eine Stimme, die ermordet wurden 

Auch ihre beiden Schwestern starben schon als Kinder, die kleinste schon kurz nach der Geburt. Die große Schwester, Lilian, weil sie sich wie die ganze Familie lange vor allem von Kartoffelschalen ernähren musste und sie zu geschwächt war. Ruth brauchte sehr viel Glück, um diese Zeit zu überleben. Angst, Hunger und entsetzliche Not wurden ihre ständigen Begleiter.  

Über all das hat Ruth ein Buch geschrieben (Ruth Rosenstock: „Die Flucht nach vorne“, 240 S., 14,90 €, Edition Fischer). Nun erzählt sie den Schülern von ihrem Schicksal. Auch weil sie sieht, dass der Antisemitismus wieder zunimmt. Und sie will all denen eine Stimme geben, die ermordet wurden. Wie konnte sie das alles verarbeiten, fragen die Schüler. „Mit Gegenwehr und Hass“, sagt sie. 

„Es hätte gleich nach dem Krieg in den Schulen aufgeklärt werden müssen, was die Deutschen getan hatten. Aber es wurde verschwiegen“, klagt sie. Und sie will uns daran erinnern: „Vor Gott sind alle Menschen gleich, es gibt keine besseren oder schlechteren.“  

Fotos: Sarah Dulay