Für die Pflege seiner Tochter gab Papa Kai sogar den Job auf

Ariéla hat einen schweren Gendefekt. Als ihr Pflegedienst gekündigt hat, übernahm der Elektrotechniker diese Vollzeitaufgabe selbst

Ariéla glücklich zu sehen ist für Kai und Silvia das Wichtigste – auch wenn das nicht immer einfach ist. Denn Ariéla ist mit einem Gendefekt zur Welt gekommen: Sie kann nicht sprechen, ist schwer gehbehindert und leidet an Epilepsie. In schlimmen Phasen hat sie täglich mehrere Krampfanfälle, einige davon sind lebensbedrohlich. „Wie häufig sie auftreten, ist sehr unterschiedlich“, erzählt Kai Dietzel. „Im ersten Vierteljahr hatten wir schon über 100 Anfälle. In solchen Momenten kommt es nur darauf an, dass sie irgendwie Luft bekommt und nicht erstickt.“

Ein Pflegedienst hat sich deshalb täglich um ihre schwerbehinderte Tochter gekümmert. Bis dieser im November 2023 aufgrund von Personalmangel kündigen musste. Die Eltern versuchten, in der Umgebung Ersatz zu finden, starteten auch Hilferufe in den sozialen Netzwerken – erfolglos.

„Momentan werde ich fast täglich von Ariéla überrascht“

„Natürlich war der Schock erst mal groß“, erinnert sich Kai Dietzel. „Aber andererseits habe ich mich all die Jahre auf genau diesen Moment vorbereitet.“ Der 54-Jährige ist studierter Elektrotechniker, arbeitete selbstständig. Doch als klar war, dass Ariéla ohne Unterstützung nicht leben kann, entschied er sich, seinen Job aufzugeben und beruflich umzuschulen. Seine Frau wurde als Hauswirtschafterin in einem Hotel zur Hauptverdienerin, während Kai eine Ausbildung zur Kindertagespflege- und Sprachförderkraft machte. Seine letzte Ausbildung zum Erzieher musste er dann abbrechen, um die Pflege von Ariéla selbst zu übernehmen.

Seit Dezember betreut Kai nun seine Tochter von 7 bis 15 Uhr in der Schule, zu Hause ist er dann pflegender Papa. Statt ständig wechselnder Pfleger hat die 14-Jährige nun immer ihren Vater um sich herum und macht große Fortschritte in der Entwicklung. „Damals ist Ariéla vielleicht mal 20 Meter gelaufen, mittlerweile laufen wir am Tag 600 bis 1000 Meter“, berichtet er. Und: „Vor Kurzem sagte sie tatsächlich ,recht so‘ als ich sie fragte, ob etwas in Ordnung sei. Das war eine der wenigen Situationen, in denen ich verstanden habe, was sie gesagt hat!“ Sein größtes Ziel ist es, Ariéla das Sprechen beizubringen. „Ich wusste schon immer, dass viel mehr in ihr steckt, und momentan werde ich fast täglich von ihr überrascht.“

„Es ist schwer, aber gemeinsam schaffen wir das“

Fortschritte wie diese geben Kai Zuversicht – trotz aller Herausforderungen, nicht nur im Umgang mit seiner Tochter. „Die niedrige Entlohnung von pflegenden Angehörigen ist leider ein großes Problem. Diese Menschen entlasten den Sozialstaat erheblich und sollten dafür angemessen bezahlt werden. Für meine medizinische Leistung bekomme ich keine Vergütung, langfristig kann ich so nicht existieren.“ Schließlich ist das Leben mit einer Behinderung auch mit Kosten verbunden, die Familie braucht z.B. ein neues rollstuhlgerechtes Auto. Das ist finanziell wie psychisch eine große Belastung – auch für Silvia, die 40 Stunden pro Woche arbeitet und sich neben Ariéla noch um ihre zwei weiteren Töchter kümmert. „Es ist schwer, aber irgendwie schaffen wir das gemeinsam. Wir müssen einfach weiterhin positiv denken“, so die 46-Jährige. Kai stimmt zu: „Wir könnten verzweifeln und sagen: ,Das arme Kind‘, aber ich sehe Ariélas Fortschritte! Sie ist kein unglückliches Kind. Und es sind diese kleinen Momente, etwa ihre ersten gesprochenen Wörter, die Schritte, die sie macht, oder ihr Lachen, die uns zeigen, dass es sich lohnt, weiterzukämpfen.“

Wenn Sie die Familie unterstützen wollen: VR-Bank Freudenberg-Niederfischbach eG, Kai Volker Dietzel, IBAN: DE92460617240012577800, Kennwort: SPENDE ARIÉLA

Angelina Luft

Nicolas gibt Kindern aus Suchtfamilien Halt

Seine eigenen Eltern waren abhängig – mit dieser Erfahrung hilft der 22-Jährige heute anderen

Als kleiner Junge fiel Nicolas stark in der Schule auf. Er hatte Schwierigkeiten im Unterricht, wurde schnell aggressiv und griff seine Mitschüler an. Niemand hinterfragte, warum er das tat: Seine Eltern waren, seit er denken kann, alkohol- und tablettensüchtig.

„Mein Vater hat als Kellner gearbeitet, meine Mutter war Krankenschwester. Beide hatten also täglich Zugang zu Alkohol und Tabletten“, erzählt der junge Mann aus Tuttlingen (Baden-Württemberg). Nüchtern waren Nicolas’ Eltern liebevoll und fürsorglich, doch sobald sie getrunken hatten, standen zwei ganz andere Menschen vor ihm. „Ich erinnere mich, wie mein Vater mich mal gepackt und mir seine Hand auf das Gesicht gedrückt hat. Oder wie meine Mutter mich mit schäumendem Mund zugelallt hat oder von der Polizei in Handschellen abgeführt wurde. Das sind alles Erfahrungen, die ängstlich und unsicher machen.“

Diese Unsicherheit begleitete ihn in der gesamten Kindheit. Über zwanzigmal begab sich seine Mutter in stationäre Behandlung. Auch sein Vater versprach, sich zu bessern – doch die Sucht war immer stärker: „Ich habe ihren Worten jedes Mal geglaubt und wurde dann wieder nur enttäuscht.“

Kinder müssen wissen, dass es Hilfe für sie gibt

2012 starb Nicolas’ Mutter an den Folgen ihres Konsums. Halt fand der damals 10-Jährige bei seiner Tante und seiner Oma. Und bei der Kindergruppe „Aufwind“ in Radolfzell, in der ihn seine Mutter etwa zwei Jahre vor ihrem Tod angemeldet hat. In der Gruppe für Kinder aus suchtbelasteten Familien fühlte Nicolas sich zum ersten Mal verstanden. „Das Schönste war für mich, einfach nur darüber zu sprechen, wie es mir geht. Das reicht manchmal schon aus, um sich weniger allein zu fühlen.“

So wie Nicolas fühlen sich viele Jungen und Mädchen: Fast jedes sechste Kind in Deutschland wächst mit suchtkranken Eltern auf. Der heute 22-Jährige empfindet tiefe Dankbarkeit dafür, dass ihm in der schlimmsten Zeit seines Lebens geholfen wurde – und möchte diese Hilfe nun als ehrenamtlicher Mitarbeiter der Gruppe an andere Kinder weitergeben.

Den Kontakt zu seinem Vater hat Nicolas abgebrochen – er kam trotz aller Versprechen nie von seiner Sucht los. Nicolas geht seinen eigenen Weg, studiert ab Herbst Soziale Arbeit im Fachbereich Sucht. „Als ich noch ein Kind war, hätte ich jemanden gebraucht, der dasselbe erlebt hat wie ich und der mir zeigt, dass ich mir Hilfe suchen kann und diese auch bekomme. Ich hoffe, dass ich noch lange dieser Jemand sein kann.“

Angelina Luft

Einsamkeit ist ein Gefühl – und nur zusammen kann man etwas dagegen tun

 

Etwa jeder Dritte in Deutschland fühlt sich zeitweise einsam. Michaela bringt solche Menschen zusammen
Was es bedeutet, einsam zu sein, weiß Michaela Natea aus Dresden gut. Wie 20 Prozent der Deutschen, die einer Umfrage zufolge chronisch einsam sind, vermisste auch die 68-jährige Rentnerin die Gesellschaft anderer Menschen – und gründete deshalb eine Selbsthilfegruppe in Dresden. Nach einem kurzen Zwischenspiel in Wismar, wo sie ebenfalls eine Gruppe etablierte, nahm sie 2023 den Faden in Dresden wieder auf. Mittlerweile kommen rund 80 Menschen in mehreren Gruppen regelmäßig zusammen, verreisen gemeinsam, wandern, machen Ausflüge oder Spielenachmittage. Michaela sagt: „Ich bin stolz auf alle, die den Weg in die Gruppen finden. Die, die aufstehen und kommen, sind Heldinnen und Helden.“
Schon bevor durch die Corona-Pandemie Einsamkeit ein präsenteres Thema wurde, fand Michaela den Mut, es anzusprechen – und auszusprechen. „Es geht nicht nur darum, Leute zu treffen, um mit denen ins Kino zu gehen“, erklärt die ehemalige Pädagogin und Altenpflegerin. Danach sei man ja wieder allein. „Einsamkeit ist ein Gefühl – wer sich einsam fühlt, muss emotional abgeholt werden“, betont sie.
Die Nachfrage ist enorm, neue Gruppen sind geplant
Daher sei Offenheit wichtig, auch wenn es keine Rolle spielt, warum jemand einsam ist. „Bei uns muss sich niemand erklären“, sagt sie. Dennoch seien die Kerngruppen wie eine Familie, die großen Gruppen wie Treffen mit entfernteren Verwandten. Die Ehrlichkeit, sich zu dem Gefühl zu bekennen, legt den Grundstein. Michaela benutzt nur den Begriff Alleinlebende, nie Alleinstehende. „Das klingt wie in der Ecke stehen, aber wir leben ja, und wir leben gut.“ In ihren Gruppen sind Freundschaften entstanden, sogar ein Liebespaar hat sich gefunden. Religiöse und politische Streitereien sind tabu. Manchmal, wenn Menschen schwerwiegendere psychische Probleme haben, hilft sie, die passenderen Ansprechpartner zu finden.
Michaelas Wunsch: mehr Beachtung für das Thema Einsamkeit von staatlicher Seite. Sie selbst hat tolle Unterstützung gefunden: In Dresden steht die Kontakt- und Informationsstelle für Selbsthilfegruppen (KISS) hinter ihr, stellt z. B. Räumlichkeiten im Rathaus zur Verfügung. Die Nachfrage ist da: In ihre Gruppen kommen Menschen von Mitte 30 bis über 80, dazu ist ein Angebot speziell für jüngere Menschen in Arbeit. Für Michaela sind die Treffen jedes Mal ein emotionales Fest, sagt sie – voller Freude.

Uta Paulus

 

„Vor Gott sind alle Menschen gleich!“  

Ruth Michel überlebte den Horror der Nazi-Zeit und klärt auch mit 95 noch auf, was damals geschah 

Der Zweite Weltkrieg ist an diesem 8. Mai 2024 in Europa seit 79 Jahren vorbei. Trotzdem haben sich um die 70 Schüler der Stuttgarter Hedwig-Dohm-Schule, zwischen 16 und 17 Jahre alt, in der Aula versammelt, um sich die Erinnerungen einer 95-jährigen, sehr energischen Dame an diese Zeit anzuhören. 

„Als ich zwölf Jahre alt war, musste ich die Führung der Familie übernehmen“, erzählt Ruth Michel, die damals noch Rosenstock hieß, aus ihrem Leben. Sie wurde als Tochter einer evangelischen Mutter und eines jüdischen Vaters in Königsberg geboren. Ihr Vater hatte immer Hochachtung vor den Deutschen. 

Bis Hitler 1933 an die Macht kam. Ruths Vater wurde auf der Straße zusammengeschlagen, weil er Jude war. Die Familie floh aus Königsberg, um bei seiner Mutter in Polen unterzukommen. Aber dahin kamen die Deutschen im Krieg auch. Am 12. Dezember 1941 ermordeten sie alle jüdischen Männer, die sie in der kleinen Stadt Mykulytschyn finden konnten. Über 200 Menschen, darunter auch Aaron Rosenstock, Ruths Vater.  

Sie gibt allen eine Stimme, die ermordet wurden 

Auch ihre beiden Schwestern starben schon als Kinder, die kleinste schon kurz nach der Geburt. Die große Schwester, Lilian, weil sie sich wie die ganze Familie lange vor allem von Kartoffelschalen ernähren musste und sie zu geschwächt war. Ruth brauchte sehr viel Glück, um diese Zeit zu überleben. Angst, Hunger und entsetzliche Not wurden ihre ständigen Begleiter.  

Über all das hat Ruth ein Buch geschrieben (Ruth Rosenstock: „Die Flucht nach vorne“, 240 S., 14,90 €, Edition Fischer). Nun erzählt sie den Schülern von ihrem Schicksal. Auch weil sie sieht, dass der Antisemitismus wieder zunimmt. Und sie will all denen eine Stimme geben, die ermordet wurden. Wie konnte sie das alles verarbeiten, fragen die Schüler. „Mit Gegenwehr und Hass“, sagt sie. 

„Es hätte gleich nach dem Krieg in den Schulen aufgeklärt werden müssen, was die Deutschen getan hatten. Aber es wurde verschwiegen“, klagt sie. Und sie will uns daran erinnern: „Vor Gott sind alle Menschen gleich, es gibt keine besseren oder schlechteren.“  

Fotos: Sarah Dulay

Ein ganz besonderes Kinderhospiz

Meine Mission von Leben und Frieden!

Nach einem Schicksalsschlag sortierte Betriebswirtin Carolin Feismann ihr Leben neu und schuf im Münsterland einen inklusiven Bauernhof

Geht man in Darup in der Nähe von Münster durch das große Tor gegenüber der Dorfkirche, erwartet einen ein paradiesisches Fleckchen Erde. „Du musst das erschaffen, was Menschen Frieden und Sicherheit gibt. Wenn du Frieden willst, musst du Frieden leben“, beschreibt Carolin Feismann (48) das von ihr errichtete tiergestützte Kinderhospiz Gut Feismann.

Das Lächeln der schwer kranken Kinder ist alle Mühen wert

Nach einem Schicksalsschlag organisierte Carolin ihr Leben neu. Gemeinsam mit ihrem Mann Stefan (48), einem Konstrukteur im Maschinenbau, kaufte sie 2016 die unter Denkmalschutz stehenden Gebäude. Mittlerweile leben neben dem Ehepaar und seinen zwei Söhnen (10 und 9) Ponys, Schafe, Schildkröten, Meerschweinchen, Hasen, Hühner, Kater Toni, Hund Leinemann und die Seniorin Lena (67) auf dem Gut. Lena hat eine Behinderung und benötigt immer mal wieder Unterstützung. „Wir sagen immer Lena ist hier nicht behindert, weil sie hier von nichts behindert wird.“ Ganz im Gegenteil: Täglich kümmert sich die 67-Jährige um das Wohl der Hühner. „Hier soll sich jeder wohlfühlen und seine Aufgaben haben!“

Das Herz des Projekts ist das rein spendenfinanzierte, tiergestützte Kinderhospiz. „Wir nehmen immer nur jeweils ein Kind zur Zeit auf, damit sich alle zehn Mitarbeiter auf eins konzentrieren können.“ Das Besondere: Die ganze Familie ist mit dabei, denn „hier erleben sie glückliche Kindertage, und manchmal sind es leider die letzten.“ Ob Kutsche fahren, reiten, im Lastenrad um die Dörfer fahren oder mit Kater Toni im Arm schlafen: „Manchmal überschreiten wir auch unsere eigenen Grenzen, weil wir probieren, alles möglich zu machen. Aber das Kinderlächeln, das wir täglich für unsere Mühen zurückbekommen, ist all das mehr als wert!“

Dieser Moment hat Carolins Leben in Sekunden verändert

Bei den Ärzten ohne Grenzen lebte sie damals ihren Traum – dachte Carolin, bis sie sich für einen Job in Zentralafrika bewarb, den dann ihre Kollegin Elsa bekam. Als Carolin erfuhr, dass Elsa erschossen worden war, änderte sie ihr Leben radikal. „In diesem Moment habe ich innegehalten und mir wurde klar, das hätte ich sein können. Kämpfen für den Frieden und dabei sterben kann nicht der richtige Weg sein. Ich will leben und mein Leben für den Frieden einsetzen!“ So steckt Carolin all ihre Energie in das Gut Feismann, um schwer kranken Kindern unvergessliche Momente zu ermöglichen. Und in neue Projekte: Erst Ende Mai eröffnete eine Kinderarztpraxis auf dem Grundstück ihre Türen, und ein weiteres Gebäude auf dem Gut soll jetzt ausgebaut werden, um noch mehr Kindern die letzten glücklichen Tage zu ermöglichen.

Wenn Sie für das tiergestützte Kinderhospiz spenden möchten: Gut Feismann gGmbH, IBAN: DE12  4015  4530  0033  0970  15 (www.gutfeismann.de)

Carolin Feismann, Gut Feismann, Tiergestütztes Kinderhospiz, Darup.

Mobbing! Wie Lukas vom Opfer zum Kämpfer wurde

Der 19-Jährige wurde als Schüler beleidigt und bedroht. Heute leistet er anderen die Hilfe, die ihm damals fehlte  

Als seine Mitschülerinnen und Mitschüler anfingen, Lukas Pohland zu schikanieren, hatten sie sich das falsche Opfer ausgesucht. Der heute 19-Jährige war damals in der siebten Klasse und einer Mitschülerin, die gemobbt wurde, zur Seite gesprungen. „Sie hatte erst nur eine altersgerechte Auseinandersetzung mit einer Freundin, doch die Dynamik, die sich dann entwickelte, war enorm“, erzählt der junge Mann aus Schwerte im Gespräch mit uns.  

Im Klassenraum wurden Lukas und seine Mitschülerin ignoriert, zeitweise beleidigt. Richtig schlimm wurde es im Digitalen: „Es gab beispielsweise eine Chatgruppe bei WhatsApp, das war eine regelrechte Hassgruppe. Dort wurden etwa Bilder von Messern gepostet und dazu die Frage gestellt: ,Mit welchen wollen wir sie abstechen?‘“, erzählt Lukas. Wiederholt wurden ihre Adressen veröffentlicht und zu Gewalttaten aufgerufen.  

Es geht ihm vor allem um Prävention 

„Ich weiß noch, wie hilflos ich mich damals gefühlt habe“, sagt der Student. Vielleicht ist er deswegen so schnell vom Opfer zum Kämpfer geworden – um die Hilflosigkeit loszuwerden. Mit 13 Jahren, da hatte er schon die Schule gewechselt, sprach Lukas als Sachverständiger vor dem Landtag in Düsseldorf. Kurz darauf gründete er dann seinen Verein Cybermobbing-Hilfe (www.cybermobbing-hilfe.de). 

Lukas sagt: „Die Anzahl der Kinder, die von Mobbing betroffen sind, steigt. Laut WHO erlebt jedes sechste Kind Mobbing.“ Er habe damals festgestellt, dass es kaum Hilfe gibt, sondern nur überforderte Lehrer, Eltern, die an ihre Grenzen geraten, und Polizisten, die selbst bei Gewaltaufrufen nichts tun (können), weil die Täterinnen und Täter meist nicht strafmündig sind. Die Verzweiflung auf der anderen Seite sei indes enorm. Viele Mobbingopfer leiden unter Kopf- und Bauchschmerzen, bekommen Schlafstörungen oder sogar Angststörungen oder Depressionen, die Leistungen in der Schule fallen ab.  

Deswegen setzt er mit seinen Mitstreitern auf Präventionsarbeit in Schulen. „Wir bieten Workshops an, in denen wir aufklären und sensibilisieren“, sagt Lukas. Außerdem haben sie eine Online-Beratung, bei der Betroffene ein offenes Ohr und Hilfe finden. Denn Lukas weiß: Jeder kann ein Opfer werden. Aber nicht jeder hat die Kraft, allein zu kämpfen. 

Ulis Erfindung kann Leben retten

Immer wieder kommt es zu Abbiege-Unfällen, oft mit tödlichen Folgen. Dabei gibt es eine Lösung 

Die 13-jährige Schülerin Trixi fuhr 1994 in Murnau (Bayern) auf dem Radweg nach Hause. Ihre Ampel zeigte Grün. Aber auch der Betonmischer-Fahrer hatte Grün. Sie wollte geradeaus. Er wollte rechts abbiegen. Er sah sie nicht im toten Winkel, erfasste und überrollte den Teenager mit dem Hinterreifen – und bemerkte es nicht mal. Das Fahrrad brachte den Lkw-Reifen zum Platzen. Trixi überlebte schwer verletzt. 

Auch 30 Jahre danach leidet Beatrix, genannt Trixi, unter den Folgen. Jetzt bekam sie zum ersten Mal eine Kur von der Krankenkasse. Ihr Vater, Uli Willburger (75), Industrie-Kaufmann aus Seehausen (Bayern), bekam damals zu hören, dass man bei solchen Unfällen nichts tun kann. „Da packte mich die Wut“, erzählt er. „Toter-Winkel-Unfälle kommen ständig vor. Und da soll man nichts tun können?“ 

Uli Willburger konnte etwas tun. Er entwickelte den Trixi-Spiegel. Wenn der an einer Kreuzung hängt, sehen alle beim Abbiegen, was im toten Winkel los ist. Auch die Radler sehen, was auf sie zukommt. Günstig ist er mit rund 75 Euro obendrein. Einfach genial. Hängt der Spiegel seitdem überall, wo es gefährlich werden könnte? In Basel ja. In Freiburg auch. In Hannover, Nordenham und Hameln vereinzelt. 700 Stück in München. Sonst kaum. Oder haben Sie mal einen gesehen? 

Mit 70 Jahren stieg Uli noch selbst auf die Leiter 

Die Unfallzahlen sinken, wenn es einen Spiegel gibt. Aber fast überall, wo Uli Willburger mit dem Trixi-Spiegel auftauchte, stieß er auf Bedenken. „Was, wenn wir verklagt werden, weil an einer Kreuzung keiner hängt?“, hörte er im Hamburger Rathaus. Dann lieber gar keinen aufhängen. Und jedes Jahr steigt die Zahl der Radfahrer, die im toten Winkel von einem Lkw erfasst und getötet werden. 

In München sammelte Radio Gong 2019 Geld für 1000 Spiegel. Innerhalb von zwei Wochen kamen über 100000 Euro zusammen, genug für doppelt so viele Spiegel. Moment, das reicht nicht, sagte die Stadt München, allein das Aufhängen koste schon 400 Euro. 

Aber Uli Willburger ließ sich nicht aufhalten. „Buben, wer macht mit?“, fragte er beim Stammtisch. Sie luden Spiegel, Leitern, Schrauben in ihre Autos und fuhren nach München. 700 Spiegel haben sie aufgehängt. Ein Busfahrer hielt mitten auf der Kreuzung und stieg aus. Was ist jetzt los?, fragten sich die Seehäuser. „Buabn, es ist super, was ihr da macht!“, rief der Mann. Auch er hat jetzt beim Abbiegen eine Sorge weniger. 

 

Fotos: Angelika Jakob

Uli Willburger

Ihre Zivilcourage verhinderte eine Entführung

Es ist die wohl größte Sorge, die eine Mutter umtreibt: dass ihrem Kind etwas Schlimmes zustoßen könnte. Arda und Abdi haben genau das verhindert und einen 12-Jährigen aus den Fängen eines mutmaßlichen Entführers befreit. „Unsere Eltern haben uns eine gesunde Skepsis gegenüber Fremden beigebracht“, erklärt Arda, „das hat uns im Leben wirklich weitergebracht.“ Jetzt werden die jungen Männer in Mönchengladbach als Helden gefeiert und wohl immer an diesen schicksalhaften Tag im September 2023 zurückdenken.

Sie kamen gerade von der Schule, als ihnen auf der belebten Josef-Drauschke-Straße in ihrem Viertel ein Mann auffiel, der einen kleinen Jungen grob hinter sich herzog. „Die beiden haben ein so merkwürdiges Bild abgegeben, dass wir der Sache auf den Grund gehen wollten“, erinnert sich Arda, der gern seinem Bauchgefühl vertraut. Und tatsächlich: „Der Junge war tränenüberströmt, ganz rot und bat uns um Hilfe“, fügt Abdi hinzu. „Wir haben direkt verstanden, was Sache ist.“

Während alle anderen wegschauten, waren sie zur Stelle

Kein anderer Passant schenkte der Situation Beachtung, doch die beiden Freunde sprachen den Mann an und befreiten das wehrlose Kind aus seinem Griff. Dann teilten sie sich geistesgegenwärtig auf: Arda folgte dem stark alkoholisierten 61-Jährigen bis vor die Haustür und verständigte die Polizei. In der Zwischenzeit brachte Abdi, der selbst mehrere Geschwister hat, den schwer verängstigten Schützling zu dessen Familie in Sicherheit. Dort angekommen, schloss die Mutter ihren Sohn in die Arme und brach in Tränen aus, als sie hörte, was passiert war. Vater und Schwester lauschten bestürzt den Geschehnissen des Nachmittags. Sie alle sind dankbar für den mutigen Einsatz der beiden Retter, die schon seit Kindergartentagen ein eingeschworenes Team sind.

Der mutmaßliche Entführer kam in eine psychiatrische Einrichtung. Doch die Ruhe währte nicht lang. „Vor wenigen Tagen erst habe ich ihn wieder betrunken auf der Straße gesehen“, erzählt Arda. „Es ist nicht gerade prickelnd zu wissen, dass er wieder auf freiem Fuß ist.“ Ob der Mann noch einmal zudringlich werden könnte? Die Bewohner der Siedlung sind nun jedenfalls wachsam. Und für das Duo, für das sogar Mönchengladbachs Oberbürgermeister und der Polizeipräsident lobende Worte fanden, steht außer Frage: „Wir würden jederzeit wieder einschreiten, weil wir keine Angst haben.“

Anne-Kathrin Harders

 

Abdi und Arda