Nicolas gibt Kindern aus Suchtfamilien Halt

Seine eigenen Eltern waren abhängig – mit dieser Erfahrung hilft der 22-Jährige heute anderen

Als kleiner Junge fiel Nicolas stark in der Schule auf. Er hatte Schwierigkeiten im Unterricht, wurde schnell aggressiv und griff seine Mitschüler an. Niemand hinterfragte, warum er das tat: Seine Eltern waren, seit er denken kann, alkohol- und tablettensüchtig.

„Mein Vater hat als Kellner gearbeitet, meine Mutter war Krankenschwester. Beide hatten also täglich Zugang zu Alkohol und Tabletten“, erzählt der junge Mann aus Tuttlingen (Baden-Württemberg). Nüchtern waren Nicolas’ Eltern liebevoll und fürsorglich, doch sobald sie getrunken hatten, standen zwei ganz andere Menschen vor ihm. „Ich erinnere mich, wie mein Vater mich mal gepackt und mir seine Hand auf das Gesicht gedrückt hat. Oder wie meine Mutter mich mit schäumendem Mund zugelallt hat oder von der Polizei in Handschellen abgeführt wurde. Das sind alles Erfahrungen, die ängstlich und unsicher machen.“

Diese Unsicherheit begleitete ihn in der gesamten Kindheit. Über zwanzigmal begab sich seine Mutter in stationäre Behandlung. Auch sein Vater versprach, sich zu bessern – doch die Sucht war immer stärker: „Ich habe ihren Worten jedes Mal geglaubt und wurde dann wieder nur enttäuscht.“

Kinder müssen wissen, dass es Hilfe für sie gibt

2012 starb Nicolas’ Mutter an den Folgen ihres Konsums. Halt fand der damals 10-Jährige bei seiner Tante und seiner Oma. Und bei der Kindergruppe „Aufwind“ in Radolfzell, in der ihn seine Mutter etwa zwei Jahre vor ihrem Tod angemeldet hat. In der Gruppe für Kinder aus suchtbelasteten Familien fühlte Nicolas sich zum ersten Mal verstanden. „Das Schönste war für mich, einfach nur darüber zu sprechen, wie es mir geht. Das reicht manchmal schon aus, um sich weniger allein zu fühlen.“

So wie Nicolas fühlen sich viele Jungen und Mädchen: Fast jedes sechste Kind in Deutschland wächst mit suchtkranken Eltern auf. Der heute 22-Jährige empfindet tiefe Dankbarkeit dafür, dass ihm in der schlimmsten Zeit seines Lebens geholfen wurde – und möchte diese Hilfe nun als ehrenamtlicher Mitarbeiter der Gruppe an andere Kinder weitergeben.

Den Kontakt zu seinem Vater hat Nicolas abgebrochen – er kam trotz aller Versprechen nie von seiner Sucht los. Nicolas geht seinen eigenen Weg, studiert ab Herbst Soziale Arbeit im Fachbereich Sucht. „Als ich noch ein Kind war, hätte ich jemanden gebraucht, der dasselbe erlebt hat wie ich und der mir zeigt, dass ich mir Hilfe suchen kann und diese auch bekomme. Ich hoffe, dass ich noch lange dieser Jemand sein kann.“

Angelina Luft